VON AUGUSTE BENDER AUS HEIDELBERG

lfndenr: 
711
1. November 1869

Lieber Felder

Wenn ich die Umstände gehörig erwogen hätte, so hätte ich eigentlich „Geehrter Herr" schreiben sollen - aber die Thatsache ist die daß ich keine formelle Anrede gebrauchen will, wenn ich den Leuten gerne Etwas Freundliches sagen möchte. - Ich bin Ihnen zwar eine Fremde, eine gänzlich Unbekannte, während Sie mir jedoch lange kein Fremder mehr sind; denn ich habe vor eini­gen Jahren den Ihre eigentümliche Lebensgeschichte betreffenden Aufsatz in der Gartenlaube gelesen, und welchen Eindruck mir derselbe hervorgebracht, beweist vielleicht der einfache Umstand, daß ich damals schon die Absicht gefaßt habe Ihnen zu schreiben und ich dieser Absicht dritthalb Jahre hindurch treu geblieben bin, obgleich ich kein Wort mehr von Ihnen gehört habe und auch jetzt nicht weiß, ob und wo Sie mein Schreiben eigentlich antreffen wird. So lebhaft begleitete mich der Wunsch, daß ich ungeachtet dessen trotz aller äußeren Veranlassungen zur Ausführung meiner lang gehegten Absicht schreite. Doch nein, so ganz ohne äußere Veranlassung eigentlich nicht, wenigstens nicht von meiner Seite. Denn vor dritthalb Jahren, war ich eben noch nichts, als eine Art Schicksalgenossin, jetzt aber seit ich die Lauf­bahn einer Schriftstellerin betreten habe, mache ich ein bischen Ansprüche auf Collegialität. - Wenn ich damals gesagt haben würde, daß ich den Drang fühle, als Schriftstellerin zu wirken, würde man mich einfach ausgelacht haben, und gesagt: „wie kann das sein, ein Bauernmädchen, das bis zu achzehn Jahren im Feld gearbeitet, im Sommer geharkt, gemäht, geschnitten, im Herbst und Winter gedroschen und gesponnen hat, ein Mädchen mit so dicken rothen Backen und einem so anspruchlosen Äußeren? O nein, eine Schriftstellerin, wie sie sein sollte muß ganz anders aussehen, blaß und mager und interessant." - Aber Gott sei Dank, daß ich in diesem Sinn so uninteressant bin, denn nur meinen dicken, rothen Backen, das heist meiner außer­gewöhnlichen Körperstärke und Gesundheit habe ich es zu dan­ken, daß ich im Kampf mit dem Schicksal, mit meinen Verhältnissen nicht zu Grunde gegangen bin. - Ja lieber Felder, ich habe in Ihrem eigentümlichen Bildungsgang ein eigenes Stück Lebensgeschichte gefunden und Ihre Geschichte deßhalb wie kein Anderer verstanden. Und bedenken Sie, daß ein Mädchen in ähnlichen Verhältnissen noch weit unglücklicher sein muß, als ein Mann, denn sie hat außer den Standesvorurtheilen auch noch die Geschlechtsvorurtheile zu bekämpfen. Ein junger Bauern­knabe, der nach geistiger Vervollkommnung strebt, findet immer­hin noch mehr Sympathien, als ein Bauernmädchen, deren Eltern nicht zu den Bemitteltsten gehören und die außerdem auch kein besonders einnehmendes Äußeres hat. Ein unglückliches Kind ist zu ernst und schweigend, und ein Kindergesicht, daß so wenig von kindlicher Heiterkeit zeigt, ist altern Leuten gewöhnlich unangenehm. - Aber ich habe sie bekämpft, diese Vorurtheile und Antipathien, das ist die Hauptsache, aber wie ich sie be kämpft habe, das weiß nur Gott der Allwissende, vielleicht habe ich später noch Gelegenheit, ihnen meine Lebensgeschichte im Einzelnen mitzutheilen. Jetzt muß ich mich nur auf die äußersten Umrisse beschränken. Der Drang nach Bildung war so verzeh­rend mächtig in mir, daß ich schon im zarten Kindesalter den Tod gewünscht habe. Die Liebe zu meinen Angehörigen hat auch mich gerettet besonders zu meiner alten armen Mutter, deren Natur ich geerbt habe, und die deßhalb unglücklich ist, wie auch ich es geworden sein würde, wenn ich mir nicht auf eigene Hand den Weg aus dem Landleben heraus gebahnt haben würde. Außerdem ist mir ein Selbstvertrauen zu Theil geworden, daß in seinen ersten Äußerungen nichts weniger als Waghalsigkeit und Tollkühnheit scheinen mußte. Aber es war ja auch Tollkühnheit, an den unüberwindlich scheinenden Schranken meiner Verhält­nisse zu rütteln und auf Befreiung zu denken, aber ich habe daran gerüttelt, mit eiserner Faust, mit dem Muthe der Verzweiflung und Gott sei Dank, sie sind gefallen, und ich habe sie überstiegen. Gott hatte mir schon in frühester Jugend die Gabe der Dichtkunst verliehen und meine Erzeugnisse haben endlich die Aufmerk­samkeit der gebildeten Welt erregt, in so weit nämlich, um meine Eltern durch mächtige Vorstellungen zu veranlassen, etwas auf meine Ausbildung zu verwenden; als dies geschah, war ich zwar schon achzehn Jahre alt, doch Gott sei Dank, noch war es nicht zu spät. Jetzt bin ich bald 24 Jahre alt und so wunderbar hat mich Gott geleitet, daß ich schon vor zwei Jahren die Prüfung einer Lehrerin an Instituten und höheren Töchterschulen zu machen und seither auch Gelegenheit gefunden habe Reisen nach England, Frankreich und Italien zu machen und mich somit in den modernen Sprachen zu vervollkommnen. So kam es nun daß ich außer meiner Muttersprache auch der englischen, französi­schen und theils auch der italienischen Sprache mächtig bin. Wer mich jetzt sieht und kennen lernt (als Sprachlehrerin) ahnt natür­lich nichts davon, daß ich vor kaum fünf Jahren noch die Kühe gemolken und die Schweine gefüttert habe. Meine Erlebnisse und Fortschritte während dieser Zeit sind auch so ungewöhnlicher Art, daß meine frühern Bekannten der unumstößlichen Ansicht sind, daß ich in allen meinen Unternehmungen unbegreifliches Glück habe; freilich von meinen stillen Erfolglosigkeiten Kämpfen, Ent­behrungen, immer wieder zu Boden geschmettert und immer wieder sich von Neuem ermannender Thatkraft wissen Sie Nichts. Genug, die Welt bekommt erst Vertrauen zu uns, wenn sie unse­re Erfolge sieht, wie theuer aber einem solchen zum Kampf gebo­renen Menschenkinde die schwer errungenen Erfolge zu stehen kommen, das kümmert sie Nichts. Bei Gott ich habe schon so viele Erfahrungen gemacht, daß ich oft nicht begreifen kann, warum ich noch keine Runzeln habe, denn alt genug komme ich mir vor. Seit letztem Frühjahr nun gelang es mir einige schriftstel­lerische Versuche zu Druck zu bringen und das ist eigentlich die äußere Veranlassung, die meinem Briefe an Sie zu Grunde liegt; denn was wären alle meine eigenthümlichen Erlebnisse gewesen, wenn ich keinen Erfolg gehabt hätte? Nicht das Talent ist es dem die Menschen ihre Anerkennung zollen, nur der Erfolg. Die Ahnung also, daß ich einst Schriftstellerin werden müsse, hat schon in frühester Kindheit in mir geschlummert und dieses Vor­gefühl ist in späteren Jahren die Triebfeder geworden, die mich antrieb, ohne alle äußere Veranlassung oder Unterstützung den Gedanken an die Möglichkeit meiner Ausbildung zu fassen. Und Gott sei Dank für die Gnade des Erfolgs denn im anderen Falle wäre ich für mein ganzes Leben ein Opfer der quälendsten Selbsvorwürfe geworden, denn die Lücke, die ich durch meine Entfernung in meiner Familie gerissen hatte, war nicht unbedeutend, ja sage es mit Stolz, daß ich eine tüchtige Feldarbeiterin war und meinem Vater einen Knecht ersparte. - So viel bis jetzt zu meiner Identification. Demnächst soll eine meiner Novellen in der badischen Landeszeitung erscheinen und werde ich mich mir dann erlauben, Ihnen Einiges unter Kreuzband zuzusenden. Meinestheils bitte ich Sie um Einiges Ihrer eigenen Arbeiten, wenn Sie einige Exemplare davon vorräthig haben sollten; denn ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, wie sehr ich mich dafür interessiere. Um Ihre Dorfgeschichten beneide ich Sie wirklich, denn ich fühle leider daß ich niemals im Stande sein werde, Dorfgeschichten zu schreiben, trotzdem man mich von allen Seiten dazu aufmuntert. Die Leute glauben eben, und nicht mit Unrecht, daß ich die ländlichen Verhältnisse ja am besten kennen müsse. Aber gerade deßhalb, weil ich Sie so gründlich kenne, fehlt mir alle Begeisterung, sie zu idealisiren. Ich habe so unend­lich auf dem Lande gelitten, daß ich jetzt die grössten Anstren­gungen zum Selbstvergessen machen muß, wenn ich überhaupt zum Arbeiten fähig sein will. Sobald ich mich in jene Verhältnisse wieder hineindenke, fühle ich mich so traurig und niedergeschla­gen, daß gar nicht daran zu denken ist, meine früheren Erfah­rungen vom Dorfleben novellistisch zu verwerthen; freilich liegt dies auch großentheil in Familienverhältnissen. So kommt es nun, daß die Stoffe meiner Novellen hauptsächlich nur aus dem Städteleben gegriffen sind. - Der Charakter meiner Landsleute bietet eigentlich so wenig Orginelles und Ursprüngliches, er ist ein Gemisch aus allemannischen, pfälzischen und fränkischen Elementen und meine Landsleute selbst (O[ben] Aschaffenburg, Untfen] Mosbach, Bahnstrecke Heidelberg - Würzburg) sind so schrecklich aufgeklärt daß man lange suchen müßte, um irgend Etwas Erfreuliches bei ihnen zu finden. Es ist der moderne Materialismus dem sie beinahe Alle huldigen und die Resultate desselben sind recht traurig. Ich möchte so gerne einmal die Bauern Ihres Landes kennen lernen, denn ihrer Schilderung in der Gartenlaube zufolge müssen sie von den übrigen sehr verschie­den sein. Aber Felder, wenn die Landsleute unter Aufklärung nichts Anderers verstehen, als ihre Religiosität, dann weiß ich wirklich nicht, was schließlich für sie am besten ist. Ich weiß aber, wie traurig es ist, ohne eine religiöse Weltanschauung das Dasein ertragen zu müssen, denn so unwahrscheinlich es auch lauten mag, so ist es doch leider nur zu wahr, daß ich schon als zehnjähriges Kind weder an einen Gott, noch an eine Vorsehung, Unsterblichkeit, oder sonst Etwas glaubte, ja man hatte mich gelehrt den Glauben an diese Dinge eben so sehr wie den Glauben an Hexen und Gespenster zu verachten, und eine Religion, die fähig ist einen dreißig jährigen Krieg heraufzube­schwören schien mir als das Verabscheuungswürdigste, das man sich außer den Hexenprocessen noch denken kann. Und daß sich trotz dieser Grundlage in späteren Jahren ohne alle äußere Einwirkung die religiöse Überzeugung von Innen heraus bei mir Bahn gebrochen, ist eben ein Zeichen, daß die Religion dem Menschen angeboren und nicht anerzogen wird wie uns die Freireligiösen oder besser die Religionslosen gerne glauben machen möchten. -

Ich möchte Ihnen noch so Vieles sagen, wenn ich nicht schließlich fürchten müßte, Ihre Geduld zu sehr zu ermüden. Und wenn ich den langen Brief abgesandt habe, bin ich noch in Sorge, ob er auch wirklich an seine Adresse gelangt ist? Wenn dem so ist, so ersuche ich Sie um die Freundlichkeit, mich vom Empfange dieses Schreibens sofort zu benachrichtigen, nur mit wenigen Zeilen wenn Sie nämlich vorderhand noch keine Zeit haben sollten, mir jetzt schon einen größren Brief über Ihre jetzi­gen Arbeiten und sonstigen Verhältnisse zu schreiben. Sie werden ja im Laufe des Winters hiezu schon ein bischen Zeit erübrigen können. Sie würden mir eine herzliche Freude damit bereiten. Nun Gott befohlen lieber Felder, und wenn Sie mir eine Antwort schreiben, so reden Sie mich, bitte, nicht mit „Verehrtes Fräulein" an, wenn Sie sonst keine weniger formelle Anrede finden, so las­sen Sie die Titel lieber ganz bei Seite. Nicht wahr, Sie nehmen mir meine Offenherzigkeit nicht übel. Bitte sagen Sie Ihrer lieben Frau einen herzlichen Gruß von dem Bauernmädchen aus dem Odenwalde und daß ich eine innige Zuneigung zu ihr hege, weil sie fähig war, ihren Gatten zu verstehen und sein Streben zu wür­digen und ihm Kraft und Stütze zu werden. Gewiß, sie muß ein seltenes Weib sein, denn wohl weiß ich, wie schwer es ist, unter den Landleuten für das Streben nach Bildung und Vervollkomm­nung ein Verständniss zu finden.

Empfangen auch Sie meine Grüße, lieber Felder, und wenn ich Ihnen vielleicht irgendwie einmal von Nutzen sein kann so thun Sie mirs offen zu wissen; ich erlaube mir Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich mich seit fünf Jahren hauptsächlich mit der Sprachwissenschaft beschäftige, und da Sie selbst vielleicht wenig Gelegenheit und Anregung zu solchen Studien gehabt haben dürften, so wäre es vielleicht nicht unwahrscheinlich, daß Sie in diesem Sinne vielleicht manchmal einigen Rathes bedürften. Sie dürfen mich nicht mißverstehen, denn nur die innigste Theil­nahme allein veranlaßt mich, hier diesen Punkt zu berühren. Jetzt leben Sie wohl und erinnern Sie sich zuweilen

Ihrer aufrichtig ergebenen

Auguste Bender

Plöckstrasse 35

bei Herrn Dr. Otto