KASPAR MOOSBRUGGER AN FRANZ MICHAEL FELDER

lfndenr: 
68
21. Dezember 1862

 

Lieber Schwager!

Du weißt, daß zu dem Produkt der menschlichen Gesellschaft, das man „Bürokrat" heißt, allerlei Brimborium erforderlich ist, und daß das fertige Produkt es liebt, sich wie ein Murmeltier zu verhüllen und den Blicken der Welt zu entziehen. Die Komposition dieses Hüllenwesens einer anderen Analyse überlassend, will ich Dir über einen Aufenthaltsort desselben Mitteilungen machen. - Wenn Du von Thüringen her auf der alten Straße durch den mittelalterlichen Torbogen, bei dem Herzog Friedrich mit der leeren Tasche, vom Konzil von Konstanz kommend, mit dem Nachtwächter über den Einlaß unterhandelte, in das Städtchen Bludenz eingetreten bist, fällt Dir gleich ein breites und hohes, ganz friedsam und naiv dreinschauendes Haus und daran ein düsterer Adler, der beständig die Flügel zum Fluge spreizt und doch nicht zum Fliegen kommt, in die Augen. Dieses Haus merk Dir, es ist das Bürokraten-Haus von Bludenz. Warum das Symbol dieses Hauses, der düstere schwarze Vogel, so ernsten Willen zum Fliegen und so bedenkliche Schwäche zum Vollzug eindringlich vorstellt und welche Beziehung zu den Inwohnern hiedurch angedeutet werden soll, steht nicht auf der heutigen Tagesordnung, da ich nur über einen Aufenthalt eines Bürokraten referieren will. Im zweiten Stock dieses Adlerhauses sitzt eben einer in einem geräumigen, mit Akten, alten Büchern und dem selbstverständlichen Kanzleigestank reichlich versehenen Zimmer. Vor, neben und hinter ihm liegen ehrbare Aktenstöße, die in stummer Resignation die endliche Lösung ihres Schicksals erwarten. Des Bürokraten Auge mustert diese Gesellschaft, sucht sich in die richtige Positur zu werfen, und nachdem er sie gefunden, beginnt die Amtierung. Was nun da geschieht, ist nicht interessant zu wissen, und daß dieser Amtierer Kaspar Moosbrugger heißt, ist zwar auch nichts Interessantes, aber Du weißt nun, wo sich dieses Menschenkind dermalen aufhält. Soviel vom Bürokraten K. M. - Nachdem ich heute vor drei Wochen von Dir Abschied genommen hatte, habe ich noch einige Stunden an dem bewußten Orte verbracht und bekam Gelegenheit zu interessanten psychologischen Bemerkungen. Du wirst sagen, das wird wohl nicht das erstemal gewesen sein? Richtig, aber die vorgängigen Bemerkungen wurden wesentlich ergänzt. Doch für diesmal genüge die Notiz, daß der beiliegende Brief eine Folge dieser Ergänzung ist. Du wirst ihn der Adresse noch vor Neujahr vertraulich zupraktizieren und dabei an nichts anderes denken, als daß ich eine Freundespflicht erfülle. Der Aufenthalt in Bludenz ist wie der in einem Dorf Städtchen: Spießbürgertum ist Trumpf. Doch sind diese Bürger ehrliche und rechtschaffene Leute, und der Verkehr mit ihnen bringt dem Herzen stärkende Labung. Unsere Geistlichkeit predigt stets von der Glaubenseinheit, aber mit einer Wärme und Überzeugung, die immerhin sympathetisch zu wirken geeignet ist. Sonst bin ich gesund und wohl und mit meiner Lage zufrieden. Mehreres in dem Brief, den ich heimschicke. Mit tausend Grüßen ans Wible und die Mutter und voll guter Neujahrswünsche an Euch alle und den Kronprinzen, dem ich das Neujahr gelegentlich geben werde.

K. Moosbrugger

Ich erwarte bald viel Neues und Gutes zu hören. Über die Bludenzer Lektüre ein andermal. -

Keine