VON FRIEDRICH RIEDLIN AUS FRIEDRICHSHAFEN

lfndenr: 
429
10. November 1867

Hochgeehrtester Freund!

Schiller sagt in seinem Lied „an die Freude": „Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein!" und in der That nur derjenige der einen wahren, aufrichtigen Freund u. Theilnehmer an seinem Geschicke, an seiner Seite hat, kann den Sinn u. die Tiefe der Empfindungen dieses gefeierten Dichters ganz ermessen.

Einen solchen Freund aber hatte ich schon längst nicht mehr, bis mir das Schicksal (oder anders gesagt: meine Zudringlich­keit?) Sie, hochgeschätzter Freund, zuführte. Ach! wie oft erinnerte mich Ihre mir so liebe Photographie welche ich in meinem Zimmer eingerahmt aufgehängt habe, daran, Ihnen doch einmal etwas Näheres über meine hiesigen Erlebnisse u. Eindrücke mitzutheilen.

Doch vor Allem gestatten Sie mir, mich über Ihr Befinden zu erkundigen. Sie schrieben mir Mitte Juli, daß Sie im August, eine Reise nach Leipzig machen werden. Nun wie ist es Ihnen auch dort ergangen in dieser Metropole deutscher Wissen­schaft und kamen Sie wieder wohlbehalten bei den lieben Ihrigen an?? In der „Memminger Zeitung" las ich öfter von Ihnen (im Abdruck aus der A. Alg. Zeitung), seit ich aber hier bin, höre ich gar nichts mehr von Ihnen. Das hiesige Blatt ist zu ultramontan um von freiheitlichen Bewegungen eines Nachbarstaates zu reden u. „Die Gartenlaube" hatte ich nicht mehr das Glück in meine Hände zu bekommen, trotzdem ich alles versucht hatte. Ja wenn ich auf der Post den ganzen Jahr­gang 1867 abonnirt hätte, aber das war mir zu kostbiellig und so kam ich nicht weiter als bis zu Nr. 24. In den „Deutschen Blättern", Beilage zur Gartenlaube, fand ich im Inhaltsver­zeichniß „Die Sonderlinge". Leider bekam ich sie nicht zu lesen, weil wir die Blätter nicht mitabonirt hatten. Ach wie gerne möchte ich einmal ein Werk aus Ihrer Feder lesen, aber es bleibt eben bei meinem aufrichtigen Wunsche, denn die Mittel zur Anschaffung eines solchen, fehlen mir leider auch hier. Wie geht es Ihnen in Ihrer Heimath, haben Sie Ruhe vor den Priestern? und sind Sie gesund? Beehren Sie mich doch auch einmal wieder mit einem schritlichen Zeichen Ihrer Gewogenheit und Wohlwollens. Nun kommt meine Wenigkeit.

Am 23 Juli begann meine Arbeit in der hiesigen kgl. Maschi­nenwerkstätte. Vom 3ten Tage an, erhielt ich Akordarbeit, welche bis nächstes Frühjahr dauern wird und ich dabei täg­lich 1 fl 42-48 verdienen kann. Dieser höhere Lohn ist aber auch nothwendig um die erhöhten Ausgaben für die hiesigen Bedürfnisse bestreiten zu können. Am 25 August kam meine Familie hier an, und nun wohne ich bei Schmidberger am See und muß 72 fl Miethe bezahlen. Von meinen Fenstern aus genieße ich eine Aussicht die in der That, entzükend ist. Den ganzen See sehe ich vor mir ausgebreitet, hinter ihm links das Allgäu, dann den Bregenzer Wald, dann die Tyroler Berge mit dem Arlberg, in der Mitte den mayestätischen Säntis, u. rechts die Glarner, Zürcher u. Berner Alpen, u. ganz zulezt das königl. Schloß Höfen, ehmalige Benediktiner Abtei, jezt Sommerresidenz des Königs v. Württemberg. Die Sonne geht wirklich in meinem Zimmer auf u. unter, und täglich sehe ich von meinem Fenster aus, Ihre liebe Heimath, ja was noch mehr ist, von meinem Fenster aus gesehen, geht gerade wirk­lich jedesmal die Sonne hinter Ihren Bergen auf. Wird sie auch einmal geistig dort aufgehen?? Eine Morgenröthe ist bereits durch Sie! theurer Freund und Vertheidiger socialer Freiheit, angebrochen, gebe Gott, daß die Sonne bald nach­folgen möge. Unter solchen Umständen also erstens beim beständigen Anblick Ihres Bildes und dann beim Anblick des oft prachtvollen Morgenrothes über Ihrer lieben Heimath, werden Sie es leicht begreiflich finden, daß ich Ihnen nicht vergessen kann, ja u. es ist sogar ein Bedürfniß meines Geistes mich schriftlich mit Ihnen zu unterhalten. Als diesen Mittag meine Frau mit unserm 3jährigen Knäblein bei dem herrlichen Wetter spatziren gieng, da konnte ich mich nicht mehr länger halten, ich mußte mich hinsetzen um einen längst gehegten Wunsch einmal in Erfüllung zu bringen. In Ihren Bergen haben Sie schon ziemlich Schnee. Auch ist Ihr Heimathsort, nach einer hiesigen Karte vom Bodensee, in einem ganz abge­legenen Winkel und da habe ich schon oft gedacht: wie wird doch an einem so schönen Tage wie heute, Freund Felder in seiner Einsamkeit, mitten unter rohen ungebildeten Leuten, u. ferne von gebildeten Kreisen, einen vergnügten Sonntag haben?? Wie muß sich Ihr erhabener Geist so einsam fühlen und das ist es gerade was Sie vielleicht zur Schriftstellerei getrieben. In Ihrer Heimath konnten Sie Niemand Ihre Gefühle en[t]deken weil man Sie nicht verstanden hätte. Sie griefen zur Feder um so einen Ableiter für Ihren Geist zu fin­den. Wenigstens mir geht es so.

- In unserm Geschäfte arbeiten 83 Mann mit einem Vor­stand, Buch[h]alter, Werkführer u. Magazinier. Zusammen also 87 Personen, davon sind 51 verheirathet, 36 ledig, 19 Pro­testanten und 68 Katholiken. Die Protestanten sind alle aus dem württembergischen Unterland, während die Katholiken der Mehrzahl nach von hier sind. In religiöser, politischer u. sozialer Beziehung sind aber alle sehr ungebildet, ja zum Theil sehr roh. Gelesen wird hier wenig und die politischen Anschauungen sind in Folge der schlechten, undeutschen ultramontanen Zeitblätter, sehr erbärmlich. Hier möchte man um jeden Preis östreichisch werden, nur um der protestanti­schen Regierung los zu werden. Welche Stellung ich unter solchen Leuten habe, läßt sich leicht begreifen. Der einzige wissenschaftlich gebildete Mann, mit dem ich nach meiner Weise in religiösen wie sozialen Fragen, reden kann, ist der hiesige evangel. Pfarrer Dr. Christlieb. Derselbe war vorher in London und gründete mit Hilfe schweizerischer Kaufleute die deutsche evangl. unirte Kirche zu Islington, London, der er 7 Jahre als Prediger vorstand, bis er auf Wunsch unsrer Köni­gin, die hiesige Stelle als Stadtpfarrer u. Hofprediger annahm (Siehe auch Payne's Illustrirter Familienkalender 1868 unter der Rubrik „Die Deutschen in London".) Dieser Mann hat neben ausgezeichneter wissenschaftlicher Bildung auch eine prak­tische Erfahrung, und sieht es daher gerne wenn ein Proleta­rier sich auch um etwas mehr bekümmert als blos um das tägliche Brod. -. Vom ersten Oktober an ist unsere Werkstät­ten-Bibliothek geöffnet u. ich habe wirklich das 2te Heft der Gartenlaube 1866, vielleicht erhalte ich auch den Jahrgang 1867, wenn ich jenen ausgelesen habe. Ich muß sagen ich sehne mich recht darnach. Aber werden Sie fragen,: wie steht es mit dem „Leben eines Proletariers"? Da die Arbeit gänzlich umgeändert wird, so geht es eben langsam. Ich habe erst 70 Seiten revidirt. Da wir im Winter von 7-7 Uhr arbeiten müs­sen, so kann ich am Abend nichts schreiben u. am Sonntag bin ich so vernart in die schöne Seegegend mit dem erhabe­nen Gebirgspanorama, daß ich jeden schönen Sonntag mit meinem Büble spatzieren gehe.

In der Hoffnung daß mein Schreiben Sie und Ihre liebe Fami­lie gesund antreffe, schließe ich für heute und es grüßt Ihnen freundlichst

Ihr Freund und Verehrer                        Friedr. Riedlin Schlosser

Kgl. Maschinenwerkstätte Friedrichshafen

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