VON FRIEDRICH RIEDLIN AUS MEMMINGEN

lfndenr: 
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19. Mai 1867

Verehrtester Herr Felder!

Sie werden es vielleicht unverzeihlich finden, wenn ein Ihnen gänzlich Unbekannter sich die Freiheit nimmt, in Ihre Core­spondenz sich zu mischen. Gestatten Sie mir daher mich zuerst bei Ihnen zu legitimiren, und dann den Grund dieses Schreibens darzuthun.

Ich bin der Sohn des in Ravensburg (Württemberg) vor 2 Jah­ren verstorbenen Schlossermeisters Jakob Riedlin und wurde geboren Ende Dez. 1837. Nach Vollendung der Schulzeit, mußte ich wider meinen Willen, da es die Mittel meines Vaters nicht anders erlaubten, die Schlosserprofession erler­nen. Weit lieber hätte ich mich zum Studium der Theologie oder für das technische Fach entschlossen. Im Jahr 1855 den 8 Mai begab ich mich in die Fremde und zuerst nach Basel in der Schweitz. Dort arbeitete ich. Dann gieng ich durch Baden nach Heidelberg und Heilbronn. In dem für den Katholiken berühmten Weingarten erhielt ich wieder Arbeit. Im Novem­ber aber gieng ich wieder in die Schweitz und dießmal nach St. Georgen b. St. Gallen, wo ich bis 26 Juli 1856 verblieb. Ich gieng dann zum zweitenmale nach Basel. Als Protestant wurde ich dort mit der evangelischen Mission bekannt und beschloß im Frühjahr 1857 in die dortige Missionsanstalt ein­zutreten um meinem Lieblingsplane, Theologie und über­haupt wissenschaftliche Fächer zu studieren, einmal Genüge zu leisten. Allein der Ausbruch der Neuenburger Revolution zerstörte meinen ganzen Plan. Ich wurde um Weihnachten arbeitslos und genöthigt Basel zu verlassen. Ich arbeitete dann später in Durlach und Heidenheim. Von dort gieng ich wieder nach St. Georgen b. St. Gallen, wo ich bis 8 Juni 1857 geblie­ben. Ich machte dann eine Reise ins baierische über Lindau, Augsburg, München, Regensburg nach Nürnberg, wo ich wie­der arbeitete. Von dort gieng ich nach Sachsen und arbeitete in der großen Fabrikstadt Chemnitz bis 11 Sept. 1857, von wo ich auf einen dringenden Brief meines Vaters, mich der Hei­math zuwandte. Um aber nicht wieder die gleichen Städte und Gegenden zu sehen, wählte ich einen Umweg und gieng über Dresden, Leipzig, Altenburg, Koburg, Würzburg, Hall und Ulm nach Ravensburg. Im Frühjahr 1858 genügte ich mei­ner Conskriptionspflicht, wobei ich eines unbedeutenden Fehlers wegen, als untauglich erklärt wurde. Das ganz Jahr 1858 war ich zu Hause. In diesem Jahr lernte ich auch ein sehr gebildetes, schönes und sanftes Mädchen kennen, eine Müllerstochter aus Bopfingen, Sophie Rau. Jene Tage welche ich in ihrem Umgange verlebte, waren die schönsten meines Lebens, denn sie war meine erste Liebe. Sie kam dann später von Ravensburg fort und ihre älteren Schwestern zwangen sie sodann, das Verhältniß mit mir aufzugeben. Ende dieses Jah­res revidirde ich mein seit 1851 geführtes Tagebuch und der­zeit füllt es bereits 4 Schreibhefte.

Im Jahr 1859 unternahm ich abermals eine Reise, um meine Lust am Reisen und an der Beobachtung fremder Sitten und Gebräuche und dem Besehen großer Städte, vollständig zu genießen. Ich reiste über Bregenz, Feldkirch und den Arlberg nach Innsbruck, wo ich arbeitete. Von dort gieng ich über Rosenheim, Salzburg nach Ischl, von dort aus der Traun nach Lambach, wo ich dann per Eisenbahn noch vollends nach Lintz hineinfuhr. In Linz bestieg ich ein Transportschiff und fuhr auf der Donau nach Wien. Von Wien gieng ich zu Fuß nach Presburg und von dort wieder per Schiff nach Ofen­Pesth. Von Pesth nach Gratz, Klagenfurt, Brixen über den Brenner wieder nach Innsbruck und zurück nach Ravensburg. Die Eindrücke welche ich auf dieser großen Reise erhalten und meine Erlebnisse, sind alle in meinem Tagebuch verzeich­net. Nun blieb ich zu Hause und führte das Geschäft meines Vaters, bis ich in Folge eines dummen Jugendstreiches, meine Heimath und den alten Vater verließ, hierher gieng und mich gegen den Willen meiner Eltern im August 1864 verheirathete. In einem der hiesigen Etablissement arbeitete ich als Fabrick­arbeiter bis ich im Juli 1868 zum Werkführer jenes Geschäftes gemacht wurde. Aber wie alles Gute und Schöne in meinem Schicksale nur auf kurze Dauer ist, so auch hier. In Folge des Bruderkrieges fallirte die Firma und ich wurde arbeitslos. Ich machte eine kleine Reise in mein Vaterland, in der Hoffnung in einem Staatsgeschäfte (Repratur-Werkstätte) Arbeit zu erhalten. Vergebens. Ich kehrte zur Arbeit zurück. Endlich erhielt ich in einem ändern hiesigen Etablissement Arbeit. Dort hatte ich das Unglück ein Stück von meinem linken Dau­menfinger zu verlieren. 5 Wochen war ich in Folge dessen zu Hause. Vom 19 Oktober - 26 November. Während dieser Zeit konnte ich ungestört einem Lieblingswunsch, nehmlich die schriftliche Abfassung einer sozialen Frage, in Angriff nehmen. Der Entwurf wurde im Laufe der 5 Wochen fertig, und ich verwendete nun jede nur übrige Zeit, nehmlich die Sonntage, dazu um die Sache korrekt zu schreiben. Die übrige Zeit an den Werktagen konnte ich begreiflicherweise nicht verwen­den, indem man gewöhnlich Abends 7 Uhr bei einer 12stün­digen Arbeitszeit zu müde ist, um eine schriftstellerische Arbeit vorzunehmen. Das Werk führt den Titel: „Acht Tage aus dem Leben eines Proletariers" umfaßt 115 Seiten und behandelt die Ihnen gewiß nicht unbekannte „Arbeiterfrage" in erzählender und zugleich belehrender Weise. Bis 1 April hatte ich das Werkchen vollendet, und übergab dasselbe einem mir bekannten Schriftsetzer. Nicht um mir selbst zu schmeicheln oder damit groß zu machen, setze ich Ihnen jene Zeilen hier bei, sondern nur um Ihnen dessen Urteil darüber darzustellen: Hr. Friedrich Riedlin Schlosser hier „Ihr mir übergebenes Manuskript habe ich bereits flüchtig durchlesen und die Überzeugung gewonnen, daß demselben eine wirkliche Sachkenntniß zu Grunde liegt, und halte ich dasselbe für eine durchaus gelungene Arbeit und ein schätz­bares Material, [weshalb eine] Veröffentlichung desselben sehr zu empfehlen wäre; insbesondere da dasselbe nament­lich für den noch nicht so aufgeklärten Stand der Arbeiter von Nutzen sein würde. In anziehender Weise das Leben eines Fabrikarbeiters geschildert und die immer mehr und mehr hervortretende Arbeiterfrage gründlich behandelnd, dürfte das Werkchen auch für den Gebildeteren nicht uninteressant sein. Nächsten Sonntag werde ich Sie besuchen, wenn es Ihnen genehm sein sollte, um Ihnen Näheres mitzutheilen. Achtungsvoll l. B." Ich wartete Sonntag für Sonntag, aber der Schriftsetzer kam nicht. Ich ließ das Manuscript zurückholen, wobei er bemerkte, daß in dieser politischen Zeitlage sich schwerlich ein Verleger für ein solches Werk finden lassen werde. Daß ich dadurch sehr entmuthigt wurde, können Sie sich leicht denken. Ich legte das Manuscript bei Seite, ver­drießlich darüber daß alles was ich zu unternehmen gedenke in den Wind geschlagen seien. Ebenso traurig stimmte mich meine materielle Lage - der schlechte Lohn, 54 X per Tag, mit den theuern Lebensmittel, hohen Miethzinsen und Holzprei­sen, machte mich auch ganz niedergeschlagen. Welche Ent­behrungen ich mir dadurch auferlegen muß, läßt sich begrei­fen. Daß neben Einschränkungen im Essen, Anschaffen von Kleidungsstücken, ans Abonniren von Zeitschriften nicht zu denken ist, versteht sich von selbst. Konnte ich auch keine Zeitschrift selbständig abonniren, so ließ es mir keine Ruhe bis ich die Gartenlaube mit einem gleichgesinnten Freunde mitlesen konnte. In die Vermehrung meiner seit dem Jahre 1855 gegründete[n] Bibliothek, welche derzeit 149 Bände um­faßt, ist nun ein Stillstand eingetreten. Wie lange? liegt in den Umständen der Zeit.

Als ich vor 8 Tagen von meinem Freunde, ebenfalls einem in den dürftigsten Umständen stehenden, aber nach geistiger Freiheit strebender Fabrikarbeiter, das Aprillheft der Garten­laube erhielt, las ich zum erstenmal von Ihrer geschätzten Persönlichkeit, und bei meiner Kenntniß Ihres lieben Vater­landes, erfüllte es mich mit Staunen über Ihre Leistungen, Ihre Thätigkeit und Ihre literarischen Kenntnisse. Ich weiß was es heißt, im Bregenzerwald zu wohnen und sich durch sich selbst, ohne jede geistige persönliche Beihülfe, auf einen sol­chen Standpunkt zu schwingen, auf dem Sie wirklich stehen. Kaum hatte ich Ihren Lebensgang und die Entwicklung Ihrer hohen Geistesgaben, in jenem Artickel durchgelesen, als der Entschluß in mir reifte, Ihnen mich durch Dieses vorzustellen und Ihnen mit meiner Lage [bekannt] zu machen, ohne daß ich selbst nicht im Geringsten weiß, was Sie eigentlich mit mir anfangen sollen. Sonderbar! Ich fühlte mich gleich nach Lesung obigen Artickels, in geistiger Beziehung zu Ihnen hin­gezogen, obwohl Sie mir das als eine Anmaßung anrechnen könnten, es war mir als könnten Sie mir helfen, obgleich ich über das Wie? selbst nicht im Klaren bin. Der einzige Um­stand, warum ich trotz aller Bedenken, das Herz hatte an Sie zu schreiben, war allein der, daß Sie von Geburt einem Stande angehörten, der von meinem Stande keinen zu großen Abstand zeigte. Wenn ich so in meiner Werkstätte stehe und gerade keine so schwierige Arbeit vor mir habe, so ist mein Geist in voller Thätigkeit und studirt schon wieder an einem neuen Werke „Die Schulschwestern". Allein Mangel an Zeit, die Gedanken auf Papier zu bringen und die gänzliche Hilf­losigkeit, nehmen mir den Muth zur Ausführung. Vielleicht ermöglicht es Ihre wirkliche Stellung, mich bei Ihren werthen Gönnern zu empfehlen, ja mein Glück wäre grenzenlos, wür­den Sie mich in Ihre Corespondenz aufnehmen. Hier ist Nie­mand der mich versteht, soll der Geist verkümmern? Bei Ihnen hat sich die Vorsehung zu Ihnen bekannt, und hat Ihrer Laufbahn Mittel und Wege geschaffen. Wird es auch einmal in meinem Schicksale Licht werden? Das walte Gott! Nochmals um Verzeihung meines frisch gewagten Schrittes bittend, schließe ich und es empfiehlt sich Ihrem Wohlwollen Ihr ergebenster

Friedrich Riedlin Schlosser in Memmingen

Baiern.

Keine