VON HEINRICH HIRZEL AUS ZÜRICH

lfndenr: 
704
10. April 1869

Verehrter u. geliebter Herr u. Freund!

Die Zeit enteilt mir immer viel zu schnell u ich habe es leider noch nie dazu gebracht, stets säubern Tisch zu machen; derselbe ist vielmehr um dessentwillen, was jeder Tag mit sich bringt, von alten Restanzen immer in bedenklichem Maße belegt. Im verflossenen Herbst u. Winter war es die große, schwere Angelegenheit der Überschwemmten, welche mich als Vice-Präsidenten des eidge­nössischen Central-Hülfskomite sehr stark in Anspruch nahm u. jede vom Berufe frei gelassene Zeit unerbittlich für sich forderte. Zum Allgemeinen kommt immer noch das Private u. Individuelle hinzu: meine l. Frau erkrankte vor 6 Wochen schwer u. ich brachte Tage u. Nächte an ihrem Lager. -Jetzt sind 3 1/2 Millionen Franken Hülfsgelder-den Grundsätzen nach-vertheilt u. die liebe Frau ist wieder gesund u. die Ostern ist vorüber u. Ihr I. Brief vom 20 April fordert sehr freundlich,-in meinen Ohren u. in meinem Gewissen: sehr kategorisch - Antwort; hier ist sie endlich. Entschuldigen Sie meine Saumseligkeit!

„Reich u. Arm" - Ihr geschätzter Hrr. Verleger sandte mir's sogleich beim Erscheinen. Ich verschlang es schnell, das erste Mal vielleicht zu schnell. Ihnen u. ihm (Verfasser u. Verleger) gegenüber fühlte ich die Verpflichtung, das Buch unserm Publikum zu empfehlen. Lieber Felder! Diese Verpflichtung lag mir etwas schwer auf dem Herzen - Licht= u. Schattenseiten liegen da bei= u. ineinander. Feinste psychologische Entwicklung - aber für das große Publikum zu fein, zu nergelnd, zu düftelnd. Es geht zu wenig ab Fleck, zu wenig vorwärts. Es ist zu viel Secierung mit schärfstem psychologi­schem Instrumente, zu viel Wäldler=Grübelei, zu große Tiefe; u. für das allgemeine, große Publikum zu wenig Fortschritt. That, Fleisch u. Blut, zuwenig — Oberflächlichkeit. Auf diesen Pfaden gehend werden Sie den schönen Preis: das Verständniß u. die Anerkennung eines kleinen, aristokratisch = auserwählten Kreises gewinnen; aber nicht, was Sie doch wollen, auf die Massen wirken. Verzeihen Sie mir diese, aller Complimente baare, nackte Freimü­thigkeit; sie ist ganz intim. Dem lieben Publikus gegenüber redet man insofern anders, als man ihm die Lichtseiten hervorhebt u. das Zuviel des Lichtes, was als Zuviel dann Schatten wird, nur leise andeutet. Ein Recensent, der mit seinem Namen, u. daher mit seiner Person für ein Buch einsteht, hat eine schwere Aufgabe u. eine nicht leichte Verantwortlichkeit. Es sind auf diesen meinen Namen hin in Zürich vielleicht ca 20 Exemplare gekauft worden ­als Gabe auf den Weihnachtstisch. Von Mehrern habe ich nachher gehört: es sei ein für Erholungsstunden etwas zu schwere, zu strenge Arbeit, das Buch zu lesen. Nur die Gebildetesten haltenden vollen u. reinen Genuß. Sonderbar! Das Bäuerlein aus dem Walde setzt der fashionablen Welt eine Weise vor, welche zu fein präpariert ist, um von der Mehrzahl ganz goutiert zu werden. Und doch versteh' ich das Räthsel: es kommt her von des Bäuerleins nergelnder Sinnigkeit, tiefer Innigkeit, vorherrschender Concentra­tion auf das Innerste. Aber, aber-Sie müssen auch auf die Welt da draußen Rücksicht nehmen, auf die Welt, welcher das Lesen eines Romans Erholung, Ausruhen von der Arbeit ist; u. nicht wieder selbst eine Arbeit. Indem ich jetzt wieder meine Recension über­lese, die mich um der mir auferlegten diplomatischen (nämlich zwischen Lob u. Tadel zart vermittelnden) Haltung willen v;e/ Kopfzerbrechens kostete; finde ich, sie sei so ziemlich ordentlich gerathen. Dabei muß ich mich freilich noch spät bei Ihnen entschuldigen, daß ich mich am Schluße derselben bis an die äußerste Grenze der Diskretion u. fast gar ins Gebiet des Indiskreten gewagt habe, - durch Publikation der das Scheiden Ihrer I. Frau betreffenden Stellen aus Ihrem werthen Briefe. Aber ich dachte einerseits: der Schriftsteller u. mit ihm auch seine „bessere Hälfte" gehört viel mehr dem Volke, dem Publikum, als ein anderer Mensch u. andererseits lag mir daran, bei der Anzeige Ihres dritten Werkes schon einiges Interesse, einige Spannung zu erwecken für Ihrviertes, worauf ja der Schluß meiner Recension sichtlich abzielt. Und dieß vierte Werk hätten wir nun also Ihrem letzten werthen Briefe gemäß hoffentlich bald zu erwarten. Sie sind sehr fleißig gewesen den Winter über: ich begreife es, daß Sie die Wehmuth u. den Schmerz des Verlassenseins gern in der süßesten Arbeit lebendiger Erinnerung u. Rekonstruktion Ihres Werdens erstickten. Daß Sie da einen ersten Band abschließen, wo Sie es thun, u. es der Zukunft überlassen, wann ein zweiter Band komme, finde ich ganz passend. Sehr wunder nimmt mich, ob Sie mit Sal. Hirzel wegen Verlags auch dieses Werkes schon eingetreten u. im Reinen seien. Ohne Zweifel kommt es ihm etwas zu rasch nach Reich u. Arm; u. ist wohl Letzteres noch nicht ganz von ihm abgesetzt u. verdaut. Dennoch hoffe ich, er werde Ihnen u. Sie ihm womöglich treu­bleiben.

Ich habe auch vielen Grund zu vermuthen, daß das letzte von den bisherigen Ihr allerbestes Opus sein werde. Der Nümmamüller in der Naivität seines Werdens ist doch gewissermaßen das Frische­ste, was Sie geschrieben. Die Sonderlinge führen uns in die Kämpfe des Autors hinein u. fesseln uns hauptsächlich durch das persönliehe Interesse am Autor selbst, sie sind subjektiv. In Arm u. reich abstrahiert der nun völlig herausgeborne Autor von sich selbst u. ist völlig objektiv; aber fast zu objektiv sich versenkend in das geheimste u. innerste Werden seiner Gestalten. In der Autobiogra­phie erwarte ich beide Elemente in harmonischer u. schöner Durchdringung: das subjektiv=pathetische, weil's der Autor ist, um den es sich handelt; u. das objektiv=ruhige, weil's der nun in sich fest u. stark gewordene, seinen Stoff klar beherrschende Bildner seiner eigenen Gestalt ist, der uns dieselbe vorführt. - Ich denke, Sie bedürfen meiner Hülfe hinsichtlich des Verlags in keiner Weise. Freund Hildebrand hat hier die stärkere Hand als ich. Sollte ich aber Ihnen irgendwie auch noch behülflich sein müssen, so kennen Sie zum Voraus meine Bereitwilligkeit. ­Sehr angenehm hat mich die Schilderung Ihres Bezauers=Ausru­hen u. Bezauer=Arbeitens berührt. Die Stiftung des Lesevereins als eines Anti=Casino ist gewiß ein sehr verdienstliches u. sehr notwendiges Werk.

Hingegen tief ergriffen haben mich einige zwar von Ihnen wie mit Gewalt unterdrückte u. doch hervorbrechende Seufzer hinsichtlich der Kargheit oder Knappheit der Mittel für die äußere Existenz. Es ist durch Erwägung dieser Seufzer mir mit größerer Klarheit ein Gedanke wiedergekommen, der schon im vorigen Jahre sich mir aufdrängen wollte: Sie sollten irgend eine, wenn auch noch so bescheidene, doch feste Existenz haben; u. Ihre Landsleute u. Freunde sollten Opfer nicht scheuen, Ihnen eine solche zu schaf­fen, z. B. auf dem Gebiete der Schule. Es sollte im Walde, z. B. in Bezau irgend ein Institut oder eine Schule für etwas höher gehen­den Volksunterricht, nach Art unserer Sekundärschulen errichtet u. Sie zum Rektor oder Dirigenten mit dem Unterrichte in deutscher Sprache, Aufsatzlehre, Geschichte etc. berufen werden. Oder wenn das nicht möglich ist, sollten Ihnen die Freunde im Lande irgendwie sonst eine, ob auch bescheiden, doch fix honorierte Stellung verschaffen, z. B. durch Errichtung einer Ersparniß= u. Vorschußkasse u. Erwählung Ihrer Person zum honorierten Verwal­ter derselben. Ein Literaten=Leben in Wien oder sonstwo in der Welt draußen ist ein sehr prekäres, namentlich im Hinblick auf Ihre Kinder u. deren Erziehung geradezu abzurathendes Unternehmen. Das Literaten leben in der Heimath, im Walde ist besser, als jenes es wäre; aber weder zur äußern noch zur innern Existenz ganz genügend. Eine Verbindung von Beiden in der Heimath: die Verbindung einer nicht allzubeschwerten praktischen Stellung mit Ausfüllung der Mußezeit durch literarische Produktionen wäre weitaus das Zuträglichste sowohl in äußerer als auch innerer, geistiger Beziehung. Führen Sie das, als den Rath eines auswärti­gen, aber um nichts weniger intimen Freundes Ihren heimischen Freunden im Stillen zu Gemüthe. - Der Uhrenmacher hat im Herbste mit seinem Besuche uns sehr erfreut, aber auch dadurch für Sie hin erschreckt, daß er uns seinen Plan, nach Alberschwende hinauszuziehn, mittheilte. Für sich hat er gewiß wohlgethan; aber Sie haben einen ebenbürtigen Freund, oder wenigstens den Umgang mit ihm verloren. Wir begreifen u. theilen Ihr Gefühl des Isolirtseins. - Mögen Ihnen diese flüchtigen Zeilen den Beweis leisten, daß trotz scheinbarer Saumseligkeit u. Nachläßigkeit wir doch mit innigster Theilnahme Ihrer gedenken. Grüßen Sie uns Ihre Mutter u. Ihr Kinderschäärchen. Lassen Sie mich nicht so lange auf Antwort warten, wie ich Sie warten ließ. Ihrem fortdauernden, mir so hochschätzbaren Wohlwollen empfiehlt sich angelegentlichst Ihr

H Hirzel, Diakon; nebst Gattinn u. Schwägerinn.

An Salomon Hirzel schickte ich die Recension von Reich u. Arm sogleich nach ihrem Erscheinen.

Keine