KASPAR MOOSBRUGGER AN FRANZ MICHAEL FELDER

lfndenr: 
689
21. März 1869

Lieber Freund!

Den Brief vom 3. und die Sendung vom 14. d. Ms. habe ich erhalten. Habe auch alles aufmerksam durchgelesen. Bei Lesung der letzten Kapitel der Biographie kam ich aus der ruhigen Beschauung des schönen künstlerischen Gebildes und konnte heftiger Rührung nicht mehr Meister werden. Nach­dem ich derselben einen reichlichen Tribut gespendet, über den wohl niemand erstaunter war als mein Bart, der die Zeit einer Sündflut gekommen wähnen mußte, will ich nun bei wiedererobertem Objektivismus die Gedanken niederschrei­ben, die sich sofort einstellten. -

Die Erzählung bildet ein einheitliches, volles Ganzes und wäre um jede Zeile schade, die man streichen wollte. Eines fließt aus dem ändern, und ist das Frühere die Bedingung des Spä­tem. Die Sprache ist in merkwürdig hohem Grade seelisch und reißt den hingebenden Leser mit Gewalt in all die Leiden und Freuden des Sprechenden. Diese Meisterschaft der Sprache und des Satzbaues ist in Deinen frühern Werken noch nicht vorhanden. Der Ton, der das Ganze durchzieht, ist ein elegischer. Trotz der milden und versöhnlichen Stim­mung wird doch den meisten Lesern diese gewaltig sich hin­ziehende Seelenmarter peinlich sein. Es ist dies die Marter des „Gedankens", der sich selbst genügen will. Für denkende Erzieher sind wahre Schätze in dem Werk. Merkwürdig sind die Notizen aus dem Tagebuch vom Jahre 1859 und geben viel zu denken. Die Krisis, die die Versöhnung herbeiführt, ist furchtbar, und macht es ihre Eigenart, daß sie nämlich eine rein elementare ist, begreiflich, daß die Versöhnung eigent­lich nur in der Welt des Gedankens und des Gemütes vor sich geht. Hier ist der Punkt, wo unsere Anschauungen über Natur, Seele und Geist oder, um konzentrierter zu reden, über „Gedanken" und „Idee" auseinandergehen. Daß Du in Deiner Jugend auf Deine Gedanken- und Gefühlswelt gedrängt wurdest, lag in den Umständen, und hast Dich tapfer, ja heldenmäßig gehalten. In unserer Familie regierte nie das „Gedankenmäßige", sondern vorherrschend die Idee. Ideen sind in der Welt, die weder von unserm Denk- noch von unserm Gefühls- noch überhaupt von unserm Daseins­apparat erzeugt werden, sondern einfach da sind und uns unmittelbar packen. Solche Ideen sind die Idee des Schönen, des Guten, des Wahren, der Tugend, der Freiheit, die spe­zifisch christlichen Ideen und in unserem Fall die Idee der christlich-germanischen Familie. Bei uns werden die meisten Menschen vorherrschend durch Ideen geleitet, bei den sog. Liberalen vorherrschend durch Gedanken, das Richtige wäre die vernünftige Durchdringung beider. Bei den Weisen sind die Gedanken ideenvoll und die Ideen gedankenvoll. Unser Vater war ein frommer, kräftiger Germane, die Mutter von demselben Stoff, und beiden erwuchs die entsprechende Nachkommenschaft. Über alle kam die Macht des christlich­germanischen Wesens, die alle beherrschte und als Familien­geist - Familienidee - verband. Diese Macht lag in keinem väterlichen oder mütterlichen Gedanken und war nicht das Erzeugnis der verschiedenen menschlichen Organismen, die die Familie ausmachten, und doch war sie da und die Bild­nerin und Leiterin des Ganzen. Ich hieß und heiße sie „Idee", und ich und alle ändern Familienglieder können bei all unsern Gedanken- und Gemütsoperationen von dieser Idee nicht absehen, die einmal mit uns verwachsen ist. Wie es uns mit dieser Idee geht, geht es uns und der übrigen Menschheit mit den ändern oben beispielsweise angeführten Ideen. Sie sind einmal unsere Regentinnen, wenn wir von der Vernunft und von unsern Kräften und Fähigkeiten den richtigen Gebrauch machen. - Dies ist beiläufig mein Stand­punkt, und Du wirst finden, daß er von Deinem differiert. Ich möchte aber durchaus nicht beantragen, daß Du an Deiner Arbeit etwas ändern solltest, lediglich zwei Worte möchte ich geändert wissen. Wo Du sagst, die Nanni sei durch saure „Gedanken"arbeit eins mit sich und der Welt geworden, möchte ich sagen, durch saure „Seelen"arbeit, und am Schlüs­se des 19. Kapitels möchte ich statt: Allmacht „des Gedan­kens" setzen Allmacht „der Ideen". - Wenn mir irgend ein Verdienst gebühren sollte, ist es lediglich das, daß ich der Fa­milienidee treu blieb, - ein Umstand, der mich vor morali­schem und physischem Bankrott rettete. - Von hier aus ergibt sich auch meine Antwort auf das, was Du im Brief vom 3. d. Ms. darüber sagst, daß Du das Ideal unserer Sitten schaffen wollest, daß Du zeigen möchtest den Liebhaber, den Gatten, den Vater, die Geliebte, das Weib. Mir kommt vor, Du steckest noch zu stark im Individualismus, in den kleinen Idealen. Wäre die christlich-germanische Familie nicht ein schönerer Stoff, aus dem all diese kleinen Ideale heraus­wachsen und dem allein sie möglich sind. In unserer Zeit handelt es sich um die Restaurierung der Familie, um der täglich mehr um sich greifenden Zerbröckelung und Atomi­sierung der Gesellschaft einen Damm entgegen zu setzen. Um die Familie ziehen sich die weitern Kreise bis hinauf zum Staat, wie wir schon im Ruf und in der Klarstellung an­deuteten. Was Liebhaber, Gatte, Vater, Geliebte und Weib im Bregenzerwald Gutes und Ideales haben, danken sie der christlich-germanischen Familienidee, und ließe sich sicher schön und erhebend ausführen, wie diese Menschen im Kampfe mit den atomisierten Gesellschaftsmenschen siegen und kraft ihrer idealeren Richtung das Recht der Herrschaft und Normierung unserer Verhältnisse erkämpfen, um so das Schlechte und Verworrene in unsern Sitten und Gebräuchen zu verdrängen. -

Doch ich fürchte zu ermüden und wollte eigentlich nur wenige Gedanken über die eingangs erwähnten Schriftwerke hersetzen. - Ich bin im Herzen erfreut, wenn ich aus Deinem baldigen Ankommen ersehe, daß ich die Bedingung, die Du mir gestellt hast, erfüllt und Dich nicht verletzt habe. Ich habe einmal meine Ideen und muß ihnen bei jeder Gelegenheit treu zu sein suchen, schon aus Dankbarkeit für das unsäglich viele Gute, das mir durch sie zukam. -

Wenn Du herkommst, rate ich Dir vor allem, das Werk von Byr ,Anno Neun und Dreizehn' zu lesen. Das wäre ein herr­licher Stoff, den ein vaterländischer Dichter dramatisch zu bearbeiten nicht unterlassen sollte. - Das Weitere mündlich. In baldiger, sehnlicher Erwartung Dein Freund

K. Moosbrugger

Keine