VON FRIEDRICH RIEDLIN AUS FRIEDRICHSHAFEN

lfndenr: 
598
6. September 1868

Hochgeehrtester Freund!

Da ich immer der Hoffnung war, persönlich mit Ihnen zusammen­zutreffen, so warte ich bis heute um Ihnen brieflich für Ihre Gefälligkeit, durch Übersendung Ihrer „Sonderlinge" danken zu können.

Kannte ich Ihnen bisher nur aus der Gartenlaube u. Ihrer werthen Corespondenz, so hat mir das Lesen der „Sonderlinge" einen ganz ändern Begriff von Ihrer hochgeschäzten Person beigebracht. Meine, fast möchte ich sagen unverschämte Einmischung in Ihre Corespondenz, kommt mir jezt, einem Manne von solcher geisti­gen Gediegenheit gegenüber, als unstatthaft, als ungebildet vor.

Nun sehe ich erst ein, daß ich nichteinmal werth bin, Ihnen nurdie Schuhriehmen aufzulösen. Und doch sind es wiederum die Son­derlinge die mir den Muth geben, fortzufahren an dem angefange­nen Werke der Bildung meiner selbst u. meiner Standesgenossen; denn gerade die „Sonderlinge" sind der sprechenste Beweis, was Ausdauer, Selbstüberwindung u. ein fester Willezu leisten vermag. Meine Frau ist gewiß keine Freundin vom Lesen, aber die Sonder­linge mußte ich Ihr vorlesen u. erklären. Auch war ich so frei (oder unverschämt?) die 2 Bände einem gleichgesinnten Freunde zum Lesen zu leihen. Er ist leider der einzige Gesinnungsgenosse unter 84 Mitarbeitern. Die Katholiken unter ihnen sind zu ultramontan u. die Protestanten zu schläfrig um sich für die Arbeiterbewegung zu intressiren. Überhaupt will man hier von geistigem Fortschritt nichts hören. Daß ich auf Ihre Corespondenz einen gewissen Stolz habe, werden Sie mir leicht verzeihen, denn ich weiß sehr wohl, daß es wenigen Arbeitern vergönnt sein wird, mit einem bedeuten­den deutschen Schriftsteller in Corespondenz u. freundschaftli­chem Verhältnisse zu stehen, wie gerade ich die große Ehre habe. Andrerseits aber verkenne ich nicht, welche Mühe, Zeitverschwen­dung u. Geldverlust (durch Briefporto u. Papier) Ihnen meine Corespondenz verursacht, ohne von mir nur einen geringen geisti­gen Genuß zu haben. Denn da ich in geistiger Beziehung weit unter Ihnen stehe, kann ich folglich zu Ihrer Ausbildung nichts beitragen. Es ist also nur wahre Menschenliebe, wenn Sie Ihre brieflichen Unterhaltungen mit mir fortsetzen.

Die „Sonderlinge" schikte ich Ende Juli wieder an die Rieger'sche Buchhandlung von der ich sie erhielt. Da sie aus einer Leihbiblio­thek entnommen, so bin ich noch Schuldner u. bitte Ihnen daher mir darüber das Nähere mitzutheilen.

Was ich Ihnen über das allgemeine Stimmrecht sagen wollte, läßt sich kurz zusammenfassen. Dasselbe ist eigentlich nur Zweck einer Oppositionspartei, hat aber für den Arbeiter keinen speziellen Nutzen, es wird ihnen derselbe blos vorgespiegelt. Überhaupt suchen ja alle möglichen Parteien die Arbeiter wegen ihrer Mehr­zahl, auf ihre Seite zu ziehen u. so sind dann Allge. Wahlrecht, Gewerbefreiheit, Coalationsrecht u.s.w. nur die Köder die ihnen von verschiedenen Seiten zum Anbeißen vorgeworfen werden. Das ist meine Ansicht!

Alle möglichen Parteien suchen sich der Arbeiterbewegung zu bemächtigen aber keine meint es aufrichtig mit ihr. Deßhalb bilde man den Arbeiter zuerst geistig, damit er keine Advokaten oder eigennützige Fabrikanten zu Führern u. Vormündern braucht! sonst wird er vom Geführten zum Angeschmierten!! Besonders wurde in Süddeutschland die Unwissenheit (in politischer wie sozialer Beziehung), der Arbeiter von den Ultramontanen u. Demokraten bei den Zollparlamentswahlen wahrhaft empörend ausgebeutet! ­Was meine eigene Persönlichkeit anbelangt, so stehen meine materiellen Verhältnisse wieder nicht am Besten. Die Vermehrung der Familie, die Abgeneigtheit meiner Frau gegen alles Schreiben, der geringe Lohnsatz 1 [71] 24 bei den wirklichen Verhältnissen lassen mich in geistiger Beziehung nichts thun, obwohl sich mein Innerstes gegen alle geistige Trägheit sträubt. Mein Manuscript habe ich bisdato noch nicht erhalten. Eine mündliche Besprechung hätte freilich mich über manches belehren können, denn ohne Hilfe eines klassisch gebildeten Mannes, wie Sie geweßen wären, muß ich schriftstellerische Arbeiten bleiben lassen.

Es grüßt Ihnen freundlichst

Ihr Freund u. Verehrer

Friedr. Riedlin

Keine