VON JOSEF NATTER AUS GENEUILLE

lfndenr: 
206
1. Juli 1866

Lieber Freund!

Dein Brief hat mir wohl die größte Freude gemacht, die ich bisher in der Fremde gehabt habe. Erstlich war ich ganz ohne Nachrichten aus der Welt, denn was ich hier erfahren konnte, heißt soviel als nichts. Dann freuten mich die guten Nachrich­ten, die Du mir von allen Seiten gemeldet hast. Ich wünsche Dir von Herzen Glück daß Deine Sonderlinge so gute Auf­nahme gefunden haben. Du wirst nun ein berühmter Mann, dem sich ordinäre Menschen kaum mehr nähern dürften, wenn Du nicht glücklicherweise für dieselben am Meisten eingenommen wärest, was eigentlich nur billig ist, da ja die ganze Welt fast aus lauter solchen besteht. Doch noch mehr Glück wünsche ich meinen Landsleuten, daß sie die Gelegen­heit nicht vorbei gehen lassen, sich aus den alten verrotteten Verhältnissen aufzurichten, da es noch Zeit ist, denn es würde sonst auch für sie eine Nacht kommen, in der sie nicht mehr wirken könnten.

Auch für Dich ist es der schönste Lohn für Deine Mühen, wenn dieselben nicht vergebens sind. Auch ein seltener Lohn ist dieß, der Wenigen im Leben zu Theil wird, die für Andere wirken u. lehren.

Du hast mir geschrieben, ich werde die sociale Frage eher lernen begreifen. Das ist freilich wahr. Ich wollte, ich könnte einem Jeden Wälder, der die gegenwärtigen Verhältnisse für gut oder gar für nothwendig hält, herausführen in die Welt u. ihm die Gegensätze im socialen Leben zeigen, wie ich sie gesehen habe u. noch täglich vor mir sehe. Ich arbeite näm­lich 2 Stunden von Besannen auf einem Dorfe, neben wel­chem eine grosse Papierfabrik steht. Hier arbeiten nun etwa 300 Mädchen um schlechten Lohn, haben schlechte Kleider u. sind sonst im höchsten Grade demoralisirt. Bei den männ­lichen Personen ist es das nämliche. Und ihre Wohnungen. Bei uns würde man Bedauern mit den Ziegen oder Schweinen haben die man in solche Ställe hinein thun müßte. Doch Du weißt das gut genug, aber man muß es gesehen haben, ehe man sich eine richtige Vorstellung davon machen kann. Wenigstens auf mich hat dieser Anblick einen viel stärkern Eindruck gemacht, als alle statistischen Zahlen. Doch zeigen diese noch die fürchterliche Menge an, die in solchen Zustän­den lebt. Da thut Abhilfe wahrlich noth u. jeder Mensch mit gesundem Verstande soll denen danken, die sich bemühen, diesem Übelstande abzuhelfen, u. das Seinige dazu beitragen. Ich habe aufs Neue den Vorsatz gemacht, für die Grundsätze unsers verehrten u. leider zu früh verblichenen Meisters zu leben u. zu sterben. Eben darum freut's mich so, daß die Wäl­der noch zur rechten Zeit dem Übel zu steuern anfangen. Doch genug von dieser Schattenseite des menschlichen Lebens, die man für unveränderlich halten müßte, wenn nicht die Geschichte lehrte, daß alles Unerträgliche einmal anders wird u. werden muß. Die Geschichte ist mein Trost u. mein Glaubensbekenntniß. Ich glaube daß der Marquis von Posa Recht hat, wenn er sagt: Er der Freiheit Entzückende Erscheinung nicht zu stören, Er läßt des Übels grauenvolles Heer In seinem Weltall lieber toben. - Ihn, Den Künstler wird man nicht gewahr bescheiden Hüllt er sich in ewige Gesetze; Die sieht der Freigeist, doch nicht ihn. Wozu Ein Gott, die Welt ist sich selbst genug.

Was meine Wenigkeit anbelangt, bin ich gesund, und habe es hier in einer Hinsicht nicht schlecht getroffen, denn ich habe nur 2 Kameraden denen ich handlangen muß, dabei kann ich jedoch die meiste Zeit sonst arbeiten, u. daher viel lernen. Wir arbeiten auf einem Schlosse, das der vorerwähnte Papier­fabrickant bauen läßt u. das mehr als eine Million Franks kostet, bis es fertig ist.

Deine Freude, von mir französisch zu lernen, lasse nur fallen, denn ich habe keine Gelegenheit, in eine Schule zu gehen. Auch zeichnen kann ich hier nicht lernen. Doch das ist noch nicht das Ärgste, ich kann nicht lesen, u. habe keine Bücher bei mir.

Doch auch das hat sein Gutes, man lernt sich mit eigenen Gedancken zu beschäftigen, u. sich auszudrücken. Auch ist ein Sommer nicht gar so lang, u. wenn ich das nächste Jahr wieder fort komme, so will ich schon an ein Ort hinkommen, wo Gelegenheit ist, zeichnen zu lernen. Was das Spielen anbelangt, habe ich schon heimgeschrieben, was ich in dem Falle thun werde, auch bin ich darauf gefaßt, obwohl es für mich bei meinen Grundsätzen nicht das leichteste ist, das mir begegnen könnte. Doch in der Welt draußen lernt man alles gleichmüthig ertragen, ich weiß gewiß, daß ich jetzt vielmehr böse Schicksale aushalten könnte, als wie ich zu Hause war. Wer sich nur zu Hause wohl fühlt, u. sonst nirgends hin kommt, betrachtet alles subjectif, aber wenn man auf sich selbst angewiesen ist, lernt man die Welt objecktif betrach­ten, u. mithin fällt einem nichts mehr so schwer. Von Besancon kann ich nicht viel schreiben, ich bin noch nicht weit darin herumgekommen. Die Stadt an u. für sich hat einen betäubenden Eindruck auf mich gemacht, es ist ein Durcheinander, immer wechselnde Gestalten treiben sich umher, man kommt nie an ein Ende oder Anfang. Doch hat es auch wieder sein Gutes, denn hier ist alles beisammen, was menschliche Kunst u. Wissen zu leisten vermag. Ich habe hier einen Vorderwäldler getroffen, der dem Walde noch Ehre macht, er ist zwar nicht sehr gebildet, aber doch ein ordent­licher Mensch u. in Besancon verheirathet, dieser führt mich hin, wo ich hin will, vergangenen Sonntag sind wir im Museum gewesen, in der Bildergallerie. Da habe ich drein­geschaut, so grosse Säle voll der schönsten Bilder, das war etwas, das ich nicht genug anschauen konnte. Sonst findet man selten einen Menschen, mit dem man etwas mehr als von altäglichen oder gar abgeschmackten Dingen reden kann. Das Vorurtheil, das bei uns gegen die Fremde herscht, ist wohl nicht ganz ungegründet, denn es sind viele hier, die man daheim verachten müßte, wenn man ihr Thun u. Treiben sähe. Doch kann man es ihnen nicht ganz verargen. Zuerst sollte man ihnen in der Schule den Sinn für etwas Höheres u. Besseres einpflanzen, ehe man von ihnen fordern kann, daß sie immer auf dem rechten Wege bleiben. Für einen Menschen gewöhnlichen Schlags sind die Gefahren u. Gelegenheiten zu groß, als daß man ihnen nicht zum Opfer fallen sollte, ausgenommen, wenn eine andere Leidenschaft das Übergewicht behält, wie dieß bei den Montafonern hier der Fall ist. Entweder sind sie habsüchtig, daß [sie] nicht einmal genug essen dürfen, oder sie saufen u. gehen in das Huren­haus. Edlere Genüsse kennen sie nicht. Auch die Wälder sind so, diejenigen wenigstens, die hier sind, doch sind sie sonst intelligenter u. rühriger, als die Montafoner die mich fast an die Tannberger gemahnen. Übrigens bin ich mit dem vor­erwähnten Kameraden nicht eng befreundet, wie ich es wohl in der Fremde nie mit einem werde, denn in der Welt drau­ßen muß man selbständig sein, sonst ist man verloren, u. daheim habe ich einen Freund, für den ich dem Schicksal danke. Es thut einem so wohl, wenn man sein ganzes Herz öffnen kann, das man sonst fest verschlossen halten muß. Doch jetzt wird Deine Geduld wohl zu Ende sein daher muß ich aufhören zu plaudern. Grüße mir die Deinigen u. Ober­hausers recht herzlich, sonst niemand, es braucht unsere Kor­respondenz niemand zu wissen. In Hoffnung einer baldigen Antwort

Dein treuer Freund Josef Natter

Die Adresse lautet jetzt:

Mons. Jos. Natter chez Mons. Goumez Frangois Cultivoateur ä Geneuille Canton de Marchaux. Doubs.

wenn Dir die Adresse nicht deutlich genug ist, so fordere sie beim Adlerwirth.

Keine