VON JOHANN RÜSCHER AUS VERDUN

lfndenr: 
147
1. Juni 1865

Mein theurer Freund!

Der Wille äußert sich zwar gewöhnlich durch die Handlung u. ist meistens die Ursache u. der Beweggrund derselben. Das Nichtthun aber ist nicht immer die Folge u. der Beweis des Nichtwollens; man unterläßt oft das zu thun, was man gerne thun möchte. Dieses ist mir auch schon seit Langem begeg­net. Ich habe mir schon oft vorgenommen Dir zu schreiben u. komme doch erst nur heute dazu. Wenn ich Dir also noch nicht geschrieben habe, so war es - ich bitte Dich es zu glau­ben - weder aus schlechtem Willen, noch aus Vergessenheit. Im Gegentheile denke ich oft u. mit großem Vergnügen an Dich u. schätze mich glücklich, Dich nicht nur als meinen Landsmann, sondern auch als meinen Freund betrachten zu können. Und wie geht es denn immer, mein lieber Freund? Wie ich nicht nur hoffe sondern selbst überzeugt bin, bist Du allseitig vom schönsten Glücke umgeben; Dir ist zu Theil geworden, reichlich aus den besten Glücksquellen zu schöp­fen. Diese Glücksquellen finden sich theils in uns, theils außer uns. Die Urquelle des wahren Glückes muß sich in uns vorfin­den, die zur Vervollständigung des Glückes von ändern sich außer uns befindenden Glücksquellen ergänzt zu werden nöthig hat. Das ist bei Dir der Fall. In Dir befindet sich als Hauptquelle des wahren Glückes eine glückliche u. ausge­dehnte Intelligence u. eine edle Liebe, beide in einer voll­kommenen Harmonie. Die Intelligence ist das Auge der Liebe, u. diese ist die Folge u. Ergänzung der erstem; diese Harmonie beider ist nothwendig zur Vervollkommnung des Men­schen u. seines wahren Glückes. Als äußere Glücksquellen hast Du erstlich eine in jeder Beziehung vortreffliche Frau, die durch ihre ausgezeichneten Eigenschaften u. Tugenden Dei­ner Liebe vollkommen entspricht u. dieselbe durch die Ihrige auf eine so edle Weise erwiedert. Dieses Familienglück der Liebe ist durch die väterliche u. kindliche Liebe nur noch erhöht. Die nicht ungünstigen materiellen Umstände, in denen Du lebst, erlauben Dir, Deinen glücklichen Anlagen mittelst einer reichhaltigen Bibliothek Genüge zu leisten. Was mich betrifft, mein edler Freund, kann ich Dir im Ganzen nur Gutes sagen; ich bin immer gesund u. fröhlich. Ich habe mir zum Grundsatze gemacht, immer heiter zu sein, immer einen guten Humor zu haben, den Ernst immer in einer vollkomme­nen Harmonie mit der Fröhlichkeit zu vereinigen. Was sagst Du von dieser meiner Philosophie, die mir diesen Grundsatz gerathen u. eingegeben hat?

Meine jetzige Stellung in Verdun, in dieser alt kaiserlichen Stadt, deren Verlust die Deutschen heute noch nicht leicht verschmerzen können, hast Du ohne Zweifel von den Meini­gen kennen gelernt. In Frankreich beschäftiget man sich gegen­wärtig viel mit der Erziehung u. dem öffentlichen Unterrichte. Man sieht ein, daß eine vernunftgemäße Erziehung u. ein all­seitiger, der Wahrheit getreuer Unterricht die wahren Grund­lagen der Civilisation sind. - In der That diese zwei vortreff­lichen Factoren der Civilisation: Erziehung u. Unterricht bil­den den wahren Menschen u. Bürger heran. Ich glaube, in dieser Beziehung wäre noch Manches zu wünschen übrig in Österreich. Was lehrt man in der That, in den Österreich. Volksschulen? Du weißt es so gut als ich: Die Schüler kennen mehr od. weniger gut die Geographie u. Geschichte des heili­gen Landes, u. des jüdischen Volkes, wissen aber kaum, daß Wien die Hauptstadt ihres gemeinsamen Vaterlandes ist; sie kennen die Geschichte der Könige Saul u. David, wissen aber kaum ein Wort von den deutschen u. österr. Kaisern. Sie glau­ben mit Josue, daß die Sonne sich täglich um die Erde bewege u. theilen mit den Alten so manchen Aberglauben, während sie die neuern Erfindungen u. die Fortschritte der Wissen­schaften: als die Eisenbahn, den Telegraphen u.s.w. bereits für Hexenstreiche ansehen. -

Was glaubst Du von der österreichisch-pr[e]üssischen Allianz? Glaubt man in Österreich an ihre Aufrichtigkeit? Ich glaube nicht daran. Preussen war immer u. wird noch lange ein Feind Österreichs sein. Wollte Gott, daß Österreich sich von Preus­sen, seinem größten Feinde, nicht täuschen lasse. An der Stelle Österreichs möchte ich lieber von meinem Feinde eine Ohrfeige erhalten, als von Preussen geschmeichelt werden. Wenn Preussen sich uns nähert, so ist es nur zu seinem Vor­theile, u. zu unserm, d.h. zu Österreichs Nachtheile. ­Was gibt es Neues in meiner unvergeßlichen Heimath? Schö­nen Gruß an Deine Frau u. Mutter. Alles Schöne u. Gute, wie meine herzlichsten Grüße an die Meinigen, u. sie sollen mir sogleich schreiben. Was macht mein theurer u. edler Jochum? Viele Grüsse für ihn. Ich bitte auch besonders, den H. Pfarrer nicht zu vergessen, u. ihm meine Complimente zu machen. Grüße mir auch die sich mit Güte um mich interessiren. Viel­leicht werde ich in den nächsten Ferien, d. i. in 2 od. 3 Mona­ten das Vergnügen haben, Dich, wie die Meinigen zu sehen. Doch kann ich noch nichts Bestimmtes darüber sagen. Lebe nun recht wohl u. schreibe mir wo möglichst bald. Dein treuer Freund

Rüscher

Meine Adresse: Monsieur Rüscher, Chef d'etudes au College de Verdun (Meuse)

Keine